Vier Stolpersteine für Familie Silberberg

In den vergangenen Jahren wurden an mehreren Orten Moabits 33 Stolpersteine für die Vorfahren von Benjamin Gidron verlegt. Meist ist er zu den Verlegungen aus Israel angereist.

Benjamin Gidron. Zum Vergrößern anklicken.
Benjamin Gidron

Am 2. Juni 2021 wurden nun auch vor der Pistoriusstraße 141 in Weißensee vier Stolpersteine verlegt.

Gedenkworte für Paula und Max Silberberg und ihre Töchter Edith und Ingeborg sprachen Benjamin Gidron als Familienangehöriger, der aus diesem Anlass aus Israel angereist war, und Michael Langmann, Vorsitzender der Stolpersteingruppe Weißensee, der die Feierlichkeit umfassend vorbereitet hatte.

Die Stolpersteingruppe Weißensee hatte zu dieser Verlegung eingeladen und der Verein “Sie waren Nachbarn” ist dieser Einladung sehr gern gefolgt, ist es ihm doch seit Jahren ein enges Anliegen, den Familienmitgliedern von Benjamin Gidron ein ehrendes Andenken insbesondere mittels Stolpersteinen zu bewahren.

Mehr als fünfzig Personen hörten in der Pistoriusstraße vor dem Haus Nr. 141 seinen persönlichen Erinnerungsworten zu:

Paula Silberberg, war die jüngere Schwester von Benjamin Gidrons Großmutter Emma Gottfeld. Im Bezirk Posen 1901 geboren, zog Paula nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Familie nach Berlin, wo sie den aus Nordrhein-Westfalen stammenden Max Silberberg heiratete und mit ihm zwei Töchter bekam: Edith wurde 1927 in Moabit in der Zwinglistraße geboren, die Familie zog dann in die genossenschaftliche Wohnanlage in der Mutziger Straße – ein Musterbeispiel des Reformwohnungsbaus in der Weimarer Republik. Dort kam 1930 Ingeborg zur Welt. 1932 zog die Familie dann in die Pistoriusstraße 141, wo sie im Gartenhaus in der dritten Etage wohnte.

Zum Zeitpunkt der Eheschließung arbeitete Paula als “Aufsichtsdame” in einem Konfektionsgeschäft. Eine passende Aufgabe für eine junge Frau, deren Eltern in Polen ein Bekleidungsgeschäft betrieben hatten. Max war von Beruf Maler und Anstreicher. So wird in der Verwandtschaft berichtet: “Max Silberberg, Paulas Mann, war Hausmaler, er malte einmal das Haus der Gottfelds.” Edith und Ingeborg besuchten seit 1933 bzw. 1935 die Volksschule, die heute den Namen Primo Levis trägt, und mussten nach dem Pogrom am 9. November 1938 auf die Jüdische Volksschule wechseln.

Noch vor ihrer Deportation mussten die Silberbergs ihre Wohnung räumen, wahrscheinlich als Folge des gelockerten Mieterschutzes für jüdische Mitbewohner und Mitbewohnerinnen (Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939). In den Deportationslisten wurde die Kronprinzenstraße 8 (heute Borodin- /Ecke Gounodstraße 9) angegeben, das als “Judenhaus” bezeichnet wurde. So bezeichnete der faschistische deutsche Staat in seiner Behördensprache ein Wohnhaus in jüdischem Eigentum, in das ausschließlich jüdische Mieter und Mieterinnen bzw. Untermieter zwangseingewiesen wurden.

Mit dem sogenannten 85. Alterstransport I/89 wurden Silberbergs am 2. Februar 1943 getrennt nach Theresienstadt deportiert. Dort blieben sie fast zwei Jahre lang, bis sie 1944 weiter nach Auschwitz verschleppt wurden. Edith stand ursprünglich nicht auf der Liste der zu Deportierenden, sie hatte sich aber entschlossen, bei Mutter und Schwester zu bleiben. Diese Schlussfolgerung lassen die niedrigen Nummern 92 und 93 der Deportationsliste zu. Ediths Nummer war 1497, ihr Name wurde wohl in letzter Minute hinzugefügt. Auschwitz erreichten sie am 14. Oktober 1944. Es ist davon auszugehen, dass der 14. Oktober 1944 ihr Todestag war – nur vier Monate vor der Befreiung von Auschwitz.

Prof. Gidron berichtete von seiner Freude, 2010 eine Freundin von Ingeborg aus der Kindheit zu treffen. Sie erzählte ihm von ihrer Freundschaft: wie sie zusammen spielten, sich gegenseitig besuchten oder in die benachbarte Bibliothek gingen. Eines Tages im Jahr 1938, die Mädchen waren acht Jahre alt, kam Ingeborg nicht mehr zur Schule und sie sahen sich nie wieder. Mit Hilfe ihrer Enkel fand Frau Grasse den Kontakt zu ihm. Sie zeigte ihm die Wohnung im Hinterhaus, in dem Ingeborg mit ihrer Familie gelebt hatte. Frau Grasse ist vor wenigen Jahren verstorben, ansonsten stände sie hier mit uns, um ihrer Freundin zu gedenken, ist er sich sicher.

Mit der heutigen Zeremonie vollendet Prof. Gidron das Projekt, vor den neun Häusern all seiner Familienangehörigen mittels Stolpersteinen gedenken zu können. Einige von ihnen wurden zwischen Oktober 1941 bis Oktober 1944 von den Nazis umgebracht, andere waren in den 1930ern zu Flucht gezwungen.
37 Steine für Menschen, Männer, Frauen, Kinder.

Prof. Gidron: “Jedes Mal, wenn ich und meine Familie zu einer solchen Verlegung nach Berlin komme, bin ich beeindruckt, dass so zahlreiche heutige Bewohner an diesen Zeremonien teilnehmen. Sie kommen, um den früheren jüdischen Nachbarn ihrer Eltern oder Großeltern Respekt zu erweisen und ihre Lebensgeschichten zu hören. Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind. Ganz besonders danke ich Herrn Landmann, der diese Zeremonie organisiert hat. Das ganze Projekt zum Gedächtnis der Familie Gottfeld/Lewin hätte nicht ohne das tiefe Engagement des Moabiter Vereins “Sie waren Nachbarn” realisiert werden können. Ich danke Ihnen für Ihre nicht nachlassende Erinnerungsarbeit an die jüdische Präsenz in Moabit. Wenn ich nach Berlin komme, vermitteln Sie mir das Gefühl, dass wir langjährige Nachbarn sind.”

Michael Landmann trug im Anschluss an seine eindringlich erläuternden Worte zum Anlass der Stolpersteinverlegung ein Gedicht von Ilse Weber vor, einer tschechischen, deutschsprachigen, jüdischen Schriftstellerin, die ebenfalls nach Theresienstadt deportiert wurde und gleichzeitig mit den Silberbergs dort interniert war. Auch sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet, am 6. Oktober 1944, acht Tage vor Paula Silberberg und ihren Töchtern Edith und Ingeborg.

Ich wandre durch Theresienstadt

Ich wandre durch Theresienstadt,
das Herz so schwer wie Blei,
bis jäh mein Weg ein Ende hat,
dort knapp an der Bastei.

Dort bleib ich auf der Brücke stehn
und schau ins Tal hinaus.
Ich möcht so gerne weitergehn,
ich möcht so gern – nach Haus!

“Nach Haus!” – du wunderbares Wort,
du machst das Herz mir schwer.
Man nahm mir mein Zuhause fort.
Ich habe keines mehr.

Ich wende mich betrübt und matt,
so schwer wird mir dabei.
Theresienstadt, Theresienstadt,
wann wohl das Leid ein Ende hat –
wann sind wir wieder frei?

Dank der Unterstützung der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Weißensee fand die eindrückliche Feierlichkeit einen mehr als gebührenden Abschluss: Aus der Mitte der Gemeinde kommend trugen die Geschwister Helena und Luisa – beide etwas jünger als Ingeborg und Edith – mit Gitarre und Klarinette ein dem Anlass wunderbar angemessenes Musikstück vor. Mit den nachdenklich stimmenden Tönen im Gedächtnis verließen die Anwesenden sehr besonnen den Gedenkort – mitten in der Großstadt.

Übersetzte Rede von Benjamin Gidron