Rede von Benjamin Gidron am 4. Dezember 2019

Stolpersteinverlegung für Hermann, Rachel und Jürgen Lewin am
4. Dezember 2019

Es betrübt mich außerordentlich, dass ich nicht und auch niemand aus meiner Familie aus Gründen, die wir nicht beeinflussen können, an der heutigen Verlegung teilnehmen können.

Hermann Lewin war ein jüngerer Bruder meiner Großmutter Emma. Sie waren eine große Familie – alle zusammen neun Brüder und Schwestern, die vor dem 1. Weltkrieg in der Region um Posen lebten. Hermann wurde 1896 in Lochowo – einem Vorort von Bydgoszcz (Bromberg) geboren. Im 1. Weltkrieg kämpfte er in der preußischen Armee und zog nach dem Krieg mit seinen Eltern und Geschwistern nach Berlin.Er war als kleiner selbständiger Geschäftsmann im Handel tätig. Er heiratete Rachel (Regina) Messing und sie hatten einen Sohn – Jürgen, der am 4. April 1934 geboren wurde. Die Familie lebte hier in der Gotlandstraße 7. 1940 kam Jürgen in die 3. Jüdische Volksschule.

Am 18. Oktober 1941 begannen die Deportationen von Juden aus Berlin. Hermann Lewin, seine Frau Rachel und ihr Sohn Jürgen, der sieben Jahre alt war, befanden sich auf dem Transport Nummer 3 am 29. Oktober 1941. Sie waren die erste Familie aus dem Kreis meiner Verwandten, die deportiert wurde. In dem Deportationszug, der vom Bahnhof Grunewald abfuhr, befanden sich 1.000 Menschen. Im Oktober und November 1941 wurden ungefähr 20.000 deutsche Juden in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) verschleppt, nicht nur von Berlin aus, sondern auch aus Frankfurt, Köln, Düsseldorf und Hamburg. Sie wurden zu den 200.000 einheimischen schon dort lebenden Juden gepfercht. Die Juden, die aus Deutschland kamen, lebten meist unter schrecklichen Bedingungen in öffentlichen Einrichtungen, wo Krankheiten und Hunger herrschten.

Von 1942 an wurden Juden aus dem Lodzer Ghetto nach Chelmno (Kulmhof) gebracht, wo sie in Gas-Lastwagen getötet wurden. Nach Informationen, die uns erreichten, starb Hermann Lewin am 1. August 1942 im Ghetto von Lodz. Seine Frau Rachel wurde nach Chelmno deportiert und dort am 12. September 1942 ermordet. Gemäß neuer Informationen, die ich erhielt, starb Jürgen Lewin am 5. April 1944 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Lodz beerdigt. Das bedeutet, dass er nach dem Tod seiner Eltern diese noch anderthalb Jahre überlebt hat! Wie hat er das geschafft? Wer hat ihm geholfen? Das sind Fragen, die wir niemals werden beantworten können.

Mit Hilfe der Friedhofsverwaltung war ich in der Lage, den genauen Platz von Jürgens Grab ausfindig zu machen. Ich fühle mich verpflichtet, einen Stein auf sein Grab setzen zu lassen. Jürgen Lewin ist der einzige Mensch unter all meinen 23 von den Nazis ermordeten Verwandten, für den ein eigener Grabstein gesetzt werden wird.

Ich möchte Ihnen allen dafür danken, dass Sie heute hierhergekommen sind, um meiner Verwandten – Hermann, Rachel und Jürgen Lewin – zu gedenken, die früher in der Gotlandstraße Nummer 7 gewohnt haben.

Benjamin Gidron
Mitglied der Familie Gottfeld/Lewin