Baubeginn und Gedenken: Otto-Weidt-Platz

Am Dienstag Mittag gab es den “ersten Spatenstich” am neuen Otto-Weidt-Platz in der neuen Europacity an der Heidestraße. Otto Weidt hatte in seiner Blindenwerkstatt in Mitte Juden vor der Gestapo versteckt.
Von der Senatsverwaltung sprachen die Baudirektorin Regula Lüscher sowie Staatssekretär Stefan Tidow. Er gab auch bekannt, dass die Holocaust-Überlebenden Inge Deutschkron und Margot Friedländer zu Ehrenbürgerinnen Berlins ernannt wurden. Inge Deutschkron war eine derjenigen, die in Weidts Werkstatt überlebten.
Ihre bewegende Rede dokumentieren wir hier:

Spatenstich am Otto-Weidt-Platz am 17. April 2018 – Rede von Inge Deutschkron (verlesen durch André Schmitz)
Es ist für mich eine große Freude – fast möchte ich es als ein Wunder bezeichnen -, dass ich heute einen ersten Spatenstich für den Otto-Weidt-Platz in der Mitte Berlins ausführen kann. Ich bin glücklich darüber, dass Otto Weidt damit geehrt und die Erinnerung an ihn wach gehalten wird.
Von Anfang an hatten uns die Nazis durch eine Vielzahl von Verboten und Verordnungen gedemütigt, hatten uns zu Untermenschen erklärt, die wie Insekten vernichtet werden müssten. Sie hatten die Juden entmenschlicht, sie gezwungen, bei ungenügender Ernährung Schwerstarbeit zu leisten, mit der steten Todesdrohung im Nacken. Otto Weidt tat etwas für jene Zeit Unglaubliches: er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, teilte unsere Sorgen und Nöte, sann mit uns über Auswege nach und half uns, uns aufzurichten. Dabei handelte er so, wie sein Charakter und sein Denken es ihm eingaben. Da war nichts Gekünsteltes, nichts Unrechtes, kein Falsch.
Ich habe in jener schrecklichen Zeit zwei Jahre (von 1941 bis 1943) in der Blindenwerkstatt gearbeitet und verdanke Otto Weidt, dass ich heute hier stehe.
Nie habe ich Bilder des Geschehens aus jener Zeit vergessen können. Noch heute sehe ich den blinden Otto Weidt vor mir, wie er zur Zeit der Deportationen von Juden in die Vernichtungslager immer wieder zur Gestapo eilte – den Blindenstock in der Hand, die Blindenbinde um den Arm – auch wenn es nur um einen seiner dreißig jüdischen blinden Bürstenmacher ging. Er könne doch nicht die Aufträge der Wehrmacht für Besen und Bürsten erfüllen, für die seine Werkstatt zum wehrwichtigen Betrieb ernannt worden war, wenn man ihm seine Arbeiter wegnähme. So argumentierte er dort. Wohl schauspielerisch glänzend vorgetragen, überzeugte er jene damaligen Herren über Leben und Tod. Ein Paket, das er bei seinen Gängen zur Gestapo meist unter dem Arm trug, fehlte gewöhnlich bei seiner Rückkehr. Es mag zum Wohlwollen der Gestapo ihm gegenüber beigetragen haben und damit auch zur Rettung, – zur zeitweiligen Rettung -, seiner jüdischen Blinden. Dies erlaubte ihm wohl auch, dass er eines Tages seine gesamte blinde Belegschaft vor der Deportation bewahren konnte. Im Zuge einer Aktion gegen behinderte jüdische Menschen waren seine Blinden von der Werkbank weggeholt worden. Ich habe noch immer die verzweifelten Worte der Rosi Katz im Ohr: „Ich habe ja noch nicht einmal eine warme Jacke für die Reise.“ Weidt aber überzeugte die Gestapo, dass er ohne diese Arbeiter nicht mehr produzieren könnte. Er selbst ging zum Sammellager in der Großen Hamburger Straße, um sie zurückzuholen. Es gibt Schilderungen darüber von Zeugen, die gesehen haben, wie Weidt seine Blinden aus der Großen Hamburger Straße über die Oranienburger in die Rosenthaler Straße zurückführte. Er an der Spitze, hinter ihm seine Blinden, einer den anderen stützend, noch mit der Arbeitskleidung mit dem „Judenstern“ an der Lederschürze, in der sie wenige Stunden zuvor geholt worden waren. Wir waren damals voller Freude und glaubten, es würde mit Otto Weidt‘ Hilfe immer so weitergehen. Auf den Gedanken, dass dies nur eine Galgenfrist sein könnte, kamen wir nicht.
Otto Weidt sorgte dafür, dass wir nicht Hunger litten. Die Lebensmittelrationen für Juden wurden jeden Monat kleiner, waren zum Schluss nur noch auf ein Minimum beschränkt. Weidt trieb Zusätze auf, Brot und Kartoffeln halfen uns schon weiter. Manchmal versuchte er, uns – seine engsten Mitarbeiter – mit einem Glas Wein von unseren Sorgen und Ängsten abzulenken. Den Blinden brachte er Tabak, von dem man damals annahm, dass er die Nerven stärkte. In Kaufhäusern tauschte er Besen, die für die Wehrmacht bestimmt waren, gegen von seinen Arbeitern benötigte Kleidungsstücke. Wenn die Wehrmacht Lieferungen anmahnte, lieferte er einen kleinen Posten mit der Erklärung, mehr sei wegen Materialmangel im Augenblick nicht möglich. Drei seiner ihm vom Arbeitsamt als Arbeiter vermittelte Mitarbeiter beschäftigte er im Büro. Das war für Juden streng verboten.
Alice Licht wurde seine tüchtige Sekretärin, Werner Basch sein akribischer Buchhalter. Für mich erfand Weidt die Tätigkeit einer Expedientin, ohne die die Firma Weidt wohl hätte auskommen können.
Wenn Gestapo gemeldet wurde, – dafür gab es eine spezielle Klingelanlage – flohen wir drei in ein Versteck unter der Treppe. Da lauschten wir amüsiert, wie Weidt den Eindruck zu erwecken suchte, er teile die Einstellung der Nazis Juden gegenüber.
Er passte sich ihrem Jargon an, sprach von „Saujuden“, klagte, wie schwer es gewesen sein, diese „faulen Kerle“ zur Arbeit zu erziehen. Kaum hatte der Gestapobeamte die Werkstatt verlassen, nicht ohne sich beeindruckt zu zeigen, eilte Weidt in die Werkstatt, um seinen Arbeitern sein Verhalten zu erklären. Aber die lachten bloß. Sie hatten verstanden.
Als Weidt erfuhr, dass die Nazis beschlossen hatten, alle noch in Berlin lebenden Juden, ungeachtet ihrer Tätigkeit in Munitionsfabriken, im Februar 1943 in Vernichtungslager deportieren zu lassen, suchte er Verstecke für einige seiner Mitarbeiter. Eins davon können Sie im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt besichtigen. Er trennte den letzten Raum mit einem Schrank von der Werkstatt ab. Dahinter lebten vier Personen. Chaim Horn, der Leiter der Zurichterei, seine Frau und seine zwei Kinder. Ein nur für diesen Zweck gemieteter Laden in der Neanderstraße (heute Heinrich-Heine-Straße) diente Alice Licht und ihren Eltern als Versteck. Otto Weidt bewog Freunde, weitere Verstecke zur Verfügung zu stellen. Alle Versteckten beschäftigte er in seiner Werkstatt, nun als Illegale versteht sich. Für mich erwarb Otto Weidt das Arbeitsbuch einer Prostituierten, die nicht gewillt war, wie andere deutsche Frauen bis zum Alter von 55 Jahren, zur Arbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet zu werden. Gertrud Dereszewski, deren Daten meinen in etwa glichen, wurde offiziell als Arbeiterin der Blindenwerkstatt Weidt gemeldet. Weidt stattete uns beide mit entsprechenden Ausweisen aus – nur mit unterschiedlichen Fotos. Leider wurde Gertrud Dereszewski eines Tages bei der Ausübung ihres Gewerbes erwischt. Das beendete meine Rolle als legale Mitarbeiterin der Firma Weidt.
Die Unvorsichtigkeit eines Versteckten führte dazu, dass die Gestapo sie eines Tages alle verhaften konnte. Weidt erreichte noch in dieser prekären Situation, dass die meisten von ihnen in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt eingewiesen wurden und nicht sofort in das Vernichtungslager Auschwitz. Mit seinen Bestechungen hatte Weidt offensichtlich führende Gestapobeamte gefügig gemacht.
Von da an packte Weidt Lebensmittelpakete für seine Freunde in Theresienstadt mit Trockengemüse, Trockenbrot, Trockenkartoffeln, mit allem, was er ohne Lebensmittelkarten auftreiben konnte. Auf vorgedruckten Karten bestätigten die Freunde den Empfang. In einem kurzen, ihnen erlaubten Gruß, machten sie klar, wie wichtig diese Sendungen für sie waren. „Grüß meine Freunde die Wittlers“, stand da zu lesen. Wittler war zu jener Zeit der größte Brotfabrikant in Berlin. Ein anderer adressierte seine Dankespost „An die Kartoffelgroßhandlung Otto Weidt“.
Wir alle, die wir das Glück hatten, bei Weidt arbeiten zu dürfen, verehrten ihn, nannten ihn Papa. Er lebte mit uns, teilte unsere Sorgen, unsere Nöte, sann mit uns über Auswege aus heiklen Situationen nach.
Ja, er tat noch viel mehr: er gab uns ein Stück Selbstachtung zurück. Ich behaupte immer, dass er mich, die 19-jährige, auf diese Weise lehrte, mit dem Unfassbaren fertig zu werden, und mir die Kraft gab, die folgenden Jahre in Verstecken zu überstehen.
Weidt ist 64 Jahre alt geworden; er starb im Dezember 1947. Seinem Herzleiden hat das Leben mit uns sicher nicht gut getan. Am Tage seines Todes war er allein. Wir, denen er zum Überleben verholfen hat, hatten Deutschland am Ende des Krieges meist schleunigst verlassen.
Auf dem Friedhof „Onkel Tom“ in Zehlendorf hat er ein Ehrengrab.

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